Title: Dossier

Übersicht

Das vorliegende Dossier bietet eine Einführung zum Thema klinische Forschung und Studien, deren Situation in Österreich und dem Förderprogramm Klinische Forschungsgruppen der Ludwig Boltzmann Gesellschaft.

Auf dieser Seite

Einleitung

Die Entwicklungen in medizinischer Wissenschaft und Technologie schreiten immer weiter voran, doch um diese auch sicher und wirksam zum Einsatz zu bringen, bedarf es umfassender klinischer Forschung und Studien. Öffentliche oder private Förderprogramme stellen die dazu benötigte Finanzierung zur Verfügung.

In Österreich fehlte es jedoch insbesondere an Programmen, die es Mitarbeiter:innen von Universitätskliniken erlauben, klinische Studien in langfristig etablierten Projekten und Teams durchzuführen. Mit dem Förderprogramm Klinische Forschungsgruppen schließt die Ludwig Boltzmann Gesellschaft diese Lücke in der österreichischen Förderlandschaft. Die erste Ausschreibung fand 2022 statt, und die ersten drei geförderten klinischen Forschungsgruppen wurden im September 2023 präsentiert. Die drei Projekte – MOTION, ATTRACT und das Austrian Digital Heart Program – werden nun für bis zu 8 Jahre und je bis zu 8 Millionen Euro gefördert.

Das vorliegende Dossier bietet eine Einführung zum Thema klinische Forschung und Studien sowie deren Situation in Österreich und zum Förderprogramm Klinische Forschungsgruppen der Ludwig Boltzmann Gesellschaft. Im Anschluss finden sich Interviews mit Prof. Doz. Dr. Thomas Reiberger, einem der geförderten Forschungsgruppenleiter:innen, und Dr. Elizabeth Eisenhauer, einer international renommierten Expertin im Bereich klinische Studien.

Was ist klinische Forschung?

Um Erkrankungen und die Auswirkungen von Behandlungen zu verstehen, müssen diese mittels wissenschaftlicher Methoden erforscht werden. Die klinische Forschung umfasst die Untersuchung der biologischen, ökonomischen und sozialen Ursachen, Mechanismen und Verläufe von Erkrankungen, um Prävention, Diagnostik und kausale Therapien zu ermöglichen oder existierende Therapieformen zu verbessern. Darin eingeschlossen sind klinische Studien, die Entwicklung von Medikamenten und anderen Medizinprodukten, Epidemiologie, Sozialwissenschaften und Gesundheitsökonomie.

Heutzutage versprechen Erkenntnisse in der Grundlagenforschung der Lebens- und Sozialwissenschaften und Technologien wie maschinelles Lernen eine Vielzahl neuer Präventions-, Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten sowie neue Zugänge mittels personalisierter Medizin. Zusammen mit der Zunahme lebensstilbedingter Erkrankungen und der Gefahr von Antibiotikaresistenz und neuen Infektionskrankheiten verlangen diese Faktoren nach grundlegenden und umfassenden wissenschaftlichen Untersuchungen, um innovative Ideen zu fördern.

Die Übersetzung von humanbiologischer und medizinischer Grundlagenforschung in konkrete Handlungsoptionen und Therapieformen für Patient:innen wird Translation genannt und ist ein zentraler Aspekt der klinischen Forschung. Doch der Wissenstransfer findet nicht nur vom Labor ans Krankenbett statt. Praktizierende Ärzt:innen und nichtärztliches Personal sammeln wichtige medizinische Erfahrungen in ihrem Arbeitsalltag, die wiederum als Ideengeber für klinische Forschung dienen können.

Klinische Forschung wird durch medizinische Universitäten, außeruniversitäre Forschungseinrichtungen und Firmen der Pharmaindustrie durchgeführt. Die Aufgabenbereiche der medizinischen Universitäten gliedern sich mit Forschung, Lehre und Krankenversorgung in drei zentrale Bereiche. In ihren Kliniken behandeln sie nicht nur Patient:innen, sondern führen ebenso Grundlagenforschung und deren Translation in neue Anwendungsmöglichkeiten durch. Dabei werden auch das ärztliche und nichtärztliche Personal und der wissenschaftliche Nachwuchs aus- und weitergebildet.

Klinische Studien

Die zentrale Methode zur Translation von Grundlagenforschung und Ideen für neue medizinische Handlungsmöglichkeiten in die Praxis ist die klinische Studie. Dabei werden Patient:innen mit einer bestimmten Erkrankung über einen Zeitraum hinweg untersucht, während sie eine Behandlung mit einem Medikament erhalten.

Der Goldstandard dabei sind kontrollierte, randomisierte und doppelblinde Studien. Kontrollierte, randomisierte Studien umfassen zwei Patient:innengruppen: eine erhält das Medikament und die andere ein nicht wirksames Placebo. Welche Personen welcher Gruppe zugeordnet werden, wird dabei vollkommen zufällig ausgewählt. Doppelblind ist eine Studie, wenn weder die Patient:innen noch die behandelnden Ärzt:innen wissen, welche Gruppe das Medikament und welche das Placebo erhält. Diese Maßnahmen garantieren ein möglichst korrektes Studienergebnis. Daneben gibt es auch nicht-interventionelle Studien, bei denen die Personen keine neuen Medikamente bekommen und nicht über Routineuntersuchungen hinaus behandelt werden.

Klinische Studien für Medikamente gliedern sich in vier verschiedene Phasen. In Phase-I-Studien werden neue Medikamente an 10 bis 50 üblicherweise gesunden Proband:innen getestet, um Informationen über Verträglichkeit und Aus- und Nebenwirkungen ohne etwaige verfälschte Daten durch Erkrankungen zu sammeln. Phase-II-Studien dienen zum grundsätzlichen Nachweis der Wirksamkeit und zur Bestimmung der benötigten Dosierung eines Medikaments. Diese werden an 50 bis 200 erkrankten Patient:innen durchgeführt. In Phase-III-Studien werden an verschiedenen Klinikstandorten hunderte bis tausende Proband:innen bis zu mehrere Jahre lang untersucht, um die therapeutische Wirksamkeit des Medikaments zu belegen und etwaige seltene Nebenwirkungen zu erfassen. Mit einem positiven Ergebnis kann ein Antrag auf Zulassung des Medikaments gestellt werden. Phase-IV-Studien befassen sich mit bereits zugelassenen Medikamenten, um deren Auswirkungen bei der langfristigen Anwendung weiter zu studieren.

Finanzierung klinischer Forschung

Die Kosten für die Entwicklung neuer Medikamente und Behandlungsmethoden kann hunderttausende bis zu mehrere Dutzend Millionen Euro betragen, insbesondere, wenn ein völlig neuer Wirkstoff in einer großen Zahl an potenziellen Anfangssubstanzen gefunden werden muss.

Pharmafirmen investieren in diese risikoreichen Entwicklungsprozesse mit dem Ziel, schlussendlich Profit zu erwirtschaften. Staatlich und gemeinnützig geförderte klinische Forschung unterliegt nicht notwendigerweise diesen ökonomischen Zwängen und kann daher mit größerer Freiheit agieren. Sie kann Studien zu seltenen Krankheiten oder ökonomisch nicht rentablen Medikamenten durchführen. Dadurch bildet sie eine wichtige Säule für eine gesellschaftlich umfassende und inklusive Weiterentwicklung der Medizin.

Üblicherweise geschieht die Finanzierung klinischer Forschung durch die Pharmaindustrie und durch staatliche oder gemeinnützige Träger in Form von Förderungen für einzelne klinische Studien oder Förderungen für klinische Forschungsgruppen und -konsortien. Einzelne Studien können gezielte Fragen beantworten, doch Forschungsgruppen und -konsortien können mehr Expertise bündeln und erhalten sowie längerfristige Projekte und mehr Studien durchführen. Dadurch gelingt ein besserer multidisziplinärer Zugang, der eine effektivere Translation medizinischer Forschung in die klinische Anwendung erlaubt.

Klinische Forschung in Österreich

Klinische Forschung wird in Österreich an den medizinischen Universitäten in Wien, Graz und Innsbruck, den medizinischen Fakultäten der Johannes Kepler Universität Linz und der Sigmund Freud Universität Wien, der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften, der Paracelsus Medizinische Universität und der Danube Private University und deren Universitätskliniken betrieben. Dabei kooperieren sie auch mit der pharmazeutischen Industrie. Daneben bilden insbesondere die medizinischen Universitäten in Wien, Graz und Innsbruck einen zentralen Bestandteil der Krankenversorgung in Österreich.

Durch diese Überlappung an Aufgaben unterliegen all diese universitären Kliniken und ihre Mitarbeiter:innen sowohl dem ökonomischen Wettbewerbsdruck als auch dem Publikationsdruck des Wissenschaftsbetriebs. Aufgrund der intensiven zeitlichen Anforderungen an das Personal der Universitätskliniken in der Krankenversorgung konkurrieren diese oft mit der Arbeitszeit für Lehre und klinische Forschung. Letzterer kann üblicherweise erst in einem späteren Stadium der Karriere mehr Zeit eingeräumt werden. Dem kann durch eine Erweiterung der Förderungsmöglichkeiten entgegengewirkt werden.

Im Rahmen der Entwicklung der Zukunftsstrategie Life Sciences und Pharmastandort Österreich im Jahr 2016 wurde seitens des BMBWF ein besonderer Fokus auf die klinische Forschung gelegt. Diese strategische Ausrichtung unterstreicht die Bedeutung des Sektors für die nationale Forschungslandschaft und zielt darauf ab, Österreich als führenden Standort in diesem Bereich zu positionieren.

Förderlandschaft in Österreich

Im Bereich der klinischen Forschung in Österreich sind der Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF), die Österreichische Forschungsförderungsgesellschaft (FFG), die Austria Wirtschaftsservice GmbH und der Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF) die größten nationalen Fördergeber.

Über die letzten Leistungsvereinbarungsperioden hinweg hat das BMBWF in Zusammenarbeit mit den medizinischen Universitäten gezielt Schwerpunkte in der klinischen Forschung gesetzt. Dies umfasst die Finanzierung von Koordinationszentren für klinische Studien, die Etablierung von Physician Scientist Programmen, die Vereinfachung von Verwaltungsprozessen zwischen den Medizinischen Universitäten und den Krankenanstaltenträgern sowie Anpassungen der Ethikkommissionen an den neuen Rechtsrahmen der Clinical Trials Regulation (CTR). Bereits bei der Einführung von KLIF, einem Förderprogramm für Klinische Forschung des FWF, fanden strategische Gespräche zwischen dem FWF und dem BMBWF statt. Diese Kooperation zielte darauf ab, die Rahmenbedingungen und Ziele des Programms optimal zu gestalten und eine solide Grundlage für dessen erfolgreiche Implementierung zu schaffen.

Der Jubiläumsfonds der Oesterreichischen Nationalbank förderte ebenfalls klinische Forschung, bis er 2020 neu ausgerichtet wurde. Neben den nationalen Förderungen erfolgt maßgebliche Finanzierung durch die EU im Rahmen des Horizon 2020 und des Europäischen Forschungsrats (ERC).

Eine Stellungnahme des Österreichischen Forschungsrats aus 2016 kritisierte das Fehlen von Förderschienen, die es Mitarbeiter:innen medizinischer Kliniken erlauben, mehr Zeit und Ressourcen für klinische Forschung in Teams aufzuwenden, die langfristige Projekte und translationale Studien erlauben und damit auch die Patient:innenversorgung verbessern. Denn es wurde gezeigt, dass klinische Forschung in Spitälern allgemein zu besseren Behandlungsresultaten führt – auch bei Patient:innen, die nicht an klinischen Studien teilnehmen. Des Weiteren können dezidierte Förderprogramme für Forschungsgruppen es insbesondere jüngeren Wissenschafter:innen erlauben, klinische Forschung neben ihrer ärztlichen Arbeit durchzuführen und damit ihre Karrierechancen zu verbessern. Der Österreichische Forschungsrat identifizierte darin eine Förderlücke, die zwar teils durch die Förderprogramme des FWF adressiert, aber nicht zur Genüge geschlossen wird. Das 2022 eingeführte Förderprogramm für klinische Forschungsgruppen der Ludwig Boltzmann Gesellschaft schließt nun diese Lücke.

Klinische Forschungsgruppen (KFG)

Die LBG betreibt mit den Klinischen Forschungsgruppen Österreichs erste Förderschiene im Bereich der nicht-kommerziellen krankheits- und patientenorientierten (translationalen), konsortionalen klinischen Forschung.

Die Ludwig Boltzmann Gesellschaft ist eine unabhängige Forschungseinrichtung mit Fokus auf interdisziplinäre Forschung im Gesundheitsbereich und Translation wissenschaftlicher Erkenntnisse in die medizinische Praxis. Die Gesellschaft fördert eine Vielzahl von Instituten, deren Forschungsbereiche eine weite Spanne an medizinischen Fachbereichen von Onkologie bis Rehabilitation abbilden und auch strukturelle Aspekte wie digitale Gesundheit untersuchen.

Mit dem Open Innovation in Science Center betreibt die Gesellschaft ein Forschungs- und Kompetenzzentrum für offene und kollaborative Wissenschaftspraktiken. Das Center organisiert beispielsweise mit dem Cancer Mission Lab ein Förderprogramm für innovative Projektideen, die zur besseren Prävention, Diagnose und Lebensqualität von Krebsbetroffenen beitragen.

Förderprogramm Klinische Forschungsgruppen

Wie die Stellungnahme des Österreichischen Forschungsrats aus 2016 diagnostiziert, fehlte es in Österreich an gezielten Förderinstrumenten für nichtkommerzielle klinische Forschung, die nicht nur effektive Translation ermöglichen, sondern es auch jungen Mediziner:innen erlauben, ihre akademische Karriere voranzutreiben. Um diese Förderlücke zu schließen und zu internationalen Vorreitern in diesem Bereich wie Deutschland, den Niederlanden, Schweden und dem Vereinigten Königreich aufzuschließen, werden mit dem Förderprogramm der Ludwig Boltzmann Gesellschaft nun klinische Forschungsgruppen langfristig finanziert. Damit sollen Forschungsverbünde und -konsortien über die Grenzen von Fächern und Institutionen hinweg geschaffen werden. Dadurch soll nachhaltig Forschungskompetenz etabliert sowie der klinische Forschungsstandort Österreich im internationalen Vergleich geschärft werden. Das Programm der Klinischen Forschungsgruppen, ein übertragenes Programm des BMBWF an die Ludwig Boltzmann Gesellschaft, wurde maßgeblich mit Unterstützung des BMBWF entwickelt, um sicherzustellen, dass das Programm komplementär zu anderen Förderinstrumenten effektiv und zielgerichtet zur Förderung der klinischen Forschung beiträgt.

Anträge können für Projekte zu klinischen Studien (Phase I–III) oder andere nichtkommerzielle klinische Studien in Kombination mit klinischen Pilot- bzw. Begleitstudien an österreichischen medizinischen Universitäten oder Fakultäten, welche über eine Universitätsklinik verfügen, zusammen mit weiteren kooperierenden Institutionen gestellt werden. Die ausgewählten Antragsteller:innen werden zuerst über 4 Jahre mit einer halben bis einer Million Euro pro Jahr gefördert. Nach einer positiven Zwischenevaluierung kann der Förderzeitraum um weitere 4 Jahre verlängert werden.

Eine klinische Forschungsgruppe kann aus 5 bis 15 Personen bestehen und soll mit ihren klinischen und nicht-klinischen Expertisen und Erfahrungen die interdisziplinären Aspekte des Projektes unterstreichen. Im Rahmen der Ausschreibung wird besonderes Augenmerk auf Aspekte von Diversität, Gleichbehandlung und Inklusion gelegt, sowohl bei den Wissenschafter:innen selbst als auch in deren Forschung. Das Programm gibt vor, dass mindestens ein Drittel der Gruppenleiter:innen, deren Stellvertreter:innen und der Leiter:innen der einzelnen Arbeitspakete weiblich sein müssen.

Um insbesondere die wissenschaftliche Karriere junger Mediziner:innen zu stärken, rücken die stellvertretenden Leiter:innen in der zweiten Förderphase nach der Zwischenevaluierung in die Leitungsposition der Forschungsgruppe auf und deren Position als Stellvertreter:in wird nachbesetzt. Das soll es Forscher:innen ermöglichen, zuerst Erfahrung an stellvertretender Position zu sammeln, um danach die Leitung zu übernehmen.

Eine Besonderheit dieser Förderschiene ist die explizite Einbindung von Mentor:innen in die Forschungsgruppen. Diese sollen an den klinischen Forschungsstandorten gut etablierte oder leitende Personen sein, um den Antragsteller:innen und deren Teams einen direkten Kontakt in die organisatorischen Strukturen der Institutionen, ihre strategische Erfahrung und ein breites Netzwerk zur Verfügung zu stellen. Damit soll auch sichergestellt werden, dass den Forscher:innen die nötigen Freiräume und Ressourcen an ihren Forschungsstätten gewährt werden.

Der erste Call des Förderprogramms wurde 2022 mit 16 Millionen Euro durch das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) und mit weiteren 8 Millionen Euro durch den Fonds Zukunft Österreich finanziert. Im Zeitraum September bis November 2022 wurden 44 Kurzanträge eingereicht, die von einer wissenschaftlichen Expert:innen-Kommission evaluiert wurden. Acht Antragstellende wurden zur Einreichung von Vollanträgen eingeladen. Die Vollanträge wurden einer ausführlichen Peer-review-Begutachtung unterzogen und die Antragstellenden wurden infolgedessen zu Interviews mit der Expert:innen-Kommission eingeladen. Schlussendlich wurden drei klinische Forschungsgruppen aus den Empfehlungen der Kommission durch den Bundesminister für Bildung, Wissenschaft und Forschung ausgewählt und mit je bis zu 8 Millionen Euro über 8 Jahre dotiert. Die drei im ersten Call des Programms geförderten Forschungsgruppen sind MOTION, ATTRACT und das Austrian Digital Heart Program.

MOTION

Die Pfortader ist eine Vene, die Blut von Organen im Bauch zur Leber führt. Ein erhöhter Druck in ihr kann zu schweren Komplikationen bei Patient:innen mit Lebererkrankungen wie Leberzirrhose führen. Prof. Doz. Dr. Thomas Reiberger führt mit seinem Team im Rahmen des MOTION-Forschungsprojekts an der Klinischen Abteilung für Gastroenterologie und Hepatologie in Kooperation mit den Abteilungen für Anästhesie und Radiologie an der Medizinischen Universität Wien und dem CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin drei klinische Studien zu neuen Behandlungsmöglichkeiten für Pfortaderhochdruck durch. Diese Studien untersuchen neue Anwendungen existierender Medikamente für verschiedene Krankheitsbilder. Dabei wird das MOTION-Team von Prof. Dr. Michael Trauner als Mentor unterstützt.

Die erste der drei Studien befasst sich mit Patient:innen mit Pfortaderhochdruck in frühen Stadien der Leberzirrhose, bei denen die Leber noch ihre volle Funktion erfüllen kann. Dabei bekommen die Studienteilnehmer:innen über 12 Wochen das blutdrucksenkende Medikament Telmisartan, das bereits für andere Krankheitsbilder eingesetzt wird, um seine Auswirkungen auf den Pfortaderhochdruck zu erforschen.

Die zweite Studie umfasst Patient:innen, bei denen die Leberzirrhose die Funktion der Leber mindert. Sie bekommen das Antibiotikum Norfloxacin verabreicht, das vor allem auf die Darmflora wirkt. Die Forscher:innen erhoffen sich, dass damit weniger Darmbakterien und Entzündungsbotenstoffe aus dem Darm ins Blut der Pfortader übertreten und der Druck darin auch abfällt.

In der dritten Studie werden Patient:innen mit Erkrankungen der Blutgefäße der Leber mit Edoxaban, einem Blutverdünnungsmedikament, behandelt. Diese Studie wird als Cross-over-Studie durchgeführt, was heißt, dass eine Patient:innengruppe zuerst ein Jahr lang nur beobachtet wird und dann ein Jahr lang das Medikament verabreicht bekommt. Bei einer anderen Gruppe werden dieselben Schritte, aber in umgekehrter Reihenfolge durchgeführt. Frühere Studien gaben schon vielversprechende Hinweise auf die Wirksamkeit des Medikaments.

Die MOTION-Forschungsgruppe arbeitet eng mit der Abteilung für Anästhesie zusammen, deren Mitarbeiter:innen weitreichende Erfahrungen mit Patient:innen mit Leberzirrhose haben, und mit Kolleg:innen der Radiologie, die mittels maschinellen Lernens neue Ansätze zur nichtinvasiven Diagnostik und Prognoseabschätzung entwickeln. Des Weiteren kooperieren sie mit dem CeMM, um die zugrundeliegenden Interaktionen von Pfortaderhochdruck und Blutgefäßzellen besser zu verstehen.

ATTRACT

Glioblastome sind die häufigsten schädlichen Hirntumore bei Erwachsenen und weisen eine enorm schlechte Prognose sowie hohe Sterblichkeit und Symptomlast auf. Trotz intensiver Forschung konnten bisher keine Durchbrüche für neue Therapien erzielt werden, was unter anderem mit der limitierten Verfügbarkeit der Wirkstoffe im Gehirn und einer oftmaligen Resistenz gegen Chemotherapie, zielgerichtete Medikamente und Immuntherapie zusammenhängt. Bei ungefähr 60 bis 70 Prozent der Glioblastome führt ein genetischer Fehler sogar zu besonders ausgeprägter Resistenz gegen Chemotherapie. Assoc.-Prof. PD Dr. Anna Sophie Berghoff und ihr Team erforschen mit dem ATTRACT-Projekt neue Ansätze für individualisierte Therapiemethoden für Glioblastome. Dieses Projekt wird mit einer Vielzahl von Kooperationspartnern durchgeführt: dem biomedizinischen Forschungszentrum CBMed, den medizinischen Universitäten in Innsbruck, Graz und Wien, der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften, der Universitätsklinik St. Pölten, der Johannes Kepler Universität Linz, der Danube Private University und dem Austrian Institute of Technology. Als Mentor begleitet Univ.-Prof. Dr. Matthias Preusser das Projekt.

Die von CBMed entwickelte Ex-vivo-Drug-Screening-Plattform – eine von weltweit nur fünf akademisch zugänglichen – bildet das Herzstück des ATTRACT-Projekts. Diese Maschine kann die Wirksamkeit verschiedener Medikamente auf Tumorzellen testen, die den Patient:innen zuvor entnommen wurden. In der Studie werden 28 verschiedene Wirkstoffe außerhalb des Körpers der Patient:innen, also ex vivo, getestet, bevor sich die Patient:innen einer Behandlung unterziehen müssen. Damit kann der Therapieansatz personalisiert zugeschnitten werden.

Im Laufe der Studie wird zusätzlich eine neue Datenbank aufgebaut, welche Informationen über die Tumore, deren digitalisierte Gewebeproben, die Wirkstoffe und deren Effektivität und klinische Informationen für weiterführende funktionelle und translationale Forschung sammelt und katalogisiert. Die Analyse der Datenbank mittels maschinellen Lernens soll die Identifizierung von neuen plattformübergreifenden Biomarkern ermöglichen. Das soll Forschenden erlauben, neue Erkenntnisse über die Funktionsweise von Glioblastomen zu enthüllen und weitere Therapieansätze zu entwickeln.

Austrian Digital Heart Program

Vorhofflimmern ist mit etwa 60 Millionen betroffenen Menschen die weltweit häufigste Herzrhythmusstörung. Sie bleibt jedoch oft unerkannt und kann das Risiko für Schlaganfälle, Herzinsuffizienz und Embolien, die Verstopfung von Blutgefäßen, erhöhen. Ein besonderes Problem dabei ist, dass Vorhofflimmern häufig nur sporadisch auftritt und gerade bei älteren Menschen auch wenig bis keine Symptome verursacht. Dies hat zur Folge, dass in 30 Prozent der Fälle Vorhofflimmern erst dann erkannt wird, wenn bereits eine Komplikation auftritt. Das Austrian Digital Heart Program unter der Leitung von Priv.-Doz. Dr. Sebastian Reinstadler, PhD, untersucht diese Erkrankung mit einem innovativen digitalen Ansatz auf breiter Basis, um frühzeitige Erkennung und Behandlung zu ermöglichen.

Bisherige Studien haben gezeigt, dass Österreich einen besonderen Bedarf an weitreichenden Früherkennungsmethoden hat, denn es hat unter Männern die vierthöchste und unter Frauen sogar die höchste Rate an Vorhofflimmern in Europa. Reinstadler und sein Team an der Universitätsklinik für Kardiologie und Angiologie der Medizinischen Universität Innsbruck entwickeln in Zusammenarbeit mit Expert:innen der Medizinischen Universität Graz und dem Austrian Institute of Technology eine Applikation für Smartphones, die es den Anwender:innen erlaubt, sich selbst auf Vorhofflimmern zu testen. Das Gerät misst anhand der roten Färbung eines Fingers, der an die Kamera gehalten wird, dessen Durchblutung und kann damit auch die Herzfrequenz und etwaige Störungen darin feststellen.

Zwar sind ähnliche Applikationen schon auf dem Markt erhältlich, doch die Herausforderung besteht darin, aktiv die relevanten Bevölkerungsgruppen zu erreichen. Dabei sollen vor allem ältere Menschen adressiert werden, bei denen das Vorhofflimmern häufiger zu Komplikationen führt. Des Weiteren legt das Team des Austrian Digital Heart Program besonderen Wert auf die datenschutzkonforme Integration ihrer Studiendaten in das öffentliche Gesundheitssystem über die elektronische Gesundheitsakte ELGA.

Reinstadler hofft mit diesem Pionierprojekt, welches von Univ.-Prof. Dr. Axel Bauer als Mentor begleitet wird, in Sachen digitaler Studien eine Blaupause zu kreieren, die in Österreich und international zukünftig Anwendung finden wird.

a. Präsentation der drei KFG im September 2023. v.l.: Marisa Radatz, LBG-Geschäftsführerin; Thomas Reiberger, Medizinische Universität Wien; Anna Sophie Berghoff, Medizinische Universität Wien; Martin Polaschek, Bundesminister für Bildung, Wissenschaft und Forschung; Freyja-Maria Smolle-Jüttner, LBG-Präsidentin; Sebastian Reinstadler, Medizinische Universität Innsbruck; Elvira Welzig, LBG-Geschäftsführerin.

Interview mit Thomas Reiberger, Leiter klinische Forschungsgruppe MOTION

Prof. Doz. Dr. Thomas Reiberger war immer schon von der inneren Medizin, insbesondere der Leber fasziniert, denn dieses Organ ist auch nach Schäden oder akuten Erkrankungen besonders regenerationsfreudig. Mit seiner Forschung möchte er verstehen, wie man dieses regenerative Potenzial zur Heilung auch von fortgeschrittenen Lebererkrankungen ausschöpfen kann. 2023 wurden er und sein Team mit ihrem Projekt MOTION zur Förderung durch das Förderprogramm Klinische Forschungsgruppen der Ludwig Boltzmann Gesellschaft ausgewählt.

Welches Krankheitsbild adressieren Sie im Projekt MOTION?

Es geht um das Krankheitsbild der portalen Hypertension, auch Pfortaderhochdruck genannt. Das ist eine häufige und schwere Komplikation von chronischen Lebererkrankungen, vor allem von Leberzirrhose – also Lebervernarbung –, aber auch von Gefäßerkrankungen der Leber ohne Vernarbung. Portale Hypertension kann zu inneren Blutungen führen, die eine hohe Sterblichkeit aufweisen, weil es aus gestauten Blutgefäßen in den Verdauungstrakt bluten kann. Eine weitere schwere Komplikation ist das Auftreten von Bauchwasser, wobei es in weiterer Folge zu Schmerzen, Bauchraum-Infektionen und Blutvergiftung kommen kann.

Wenn man bei Patient:innen mit Lebererkrankungen den Pfortaderhochdruck verbessern kann, dann wird auch die Prognose verbessert. Aber es gibt seit über 40 Jahren keine neu zugelassenen Therapien, und die einzig verfügbare medikamentöse Therapie mit nicht selektiven Betablockern wirkt auch nur bei etwas mehr als 50 Prozent der Patient:innen. Dementsprechend haben wir einen enormen, bisher nicht adressierten klinischen Bedarf, den wir mit diesem Projekt bedienen wollen.

Welche klinischen Studien führen Sie im Rahmen des MOTION-Projekts durch?

Insgesamt führen wir drei doppelblinde, kontrollierte und randomisierte Studien durch. In der ersten Studie werden Patient:innen im frühen kompensierten Stadium der Leberzirrhose mit einem Therapieansatz behandelt, der vor allem den Vernarbungsprozess zurückdrängen soll. Hier kommt der Angiotensin-Rezeptor-Blocker Telmisartan über 12 Wochen zum Einsatz. Wir erwarten, dass es mit Telmisartan im Unterschied zur Placebogruppe zu einem Abfall im Pfortaderdruck kommt.

In der zweiten Studie werden Patient:innen mit fortgeschrittener, dekompensierter Leberzirrhose mit Norfloxacin behandelt. Das ist ein nur wenig resorbierbares Antibiotikum, das vor allem im Darm und an der Darmflora wirkt. Norfloxacin wird auch in dieser Studie über 12 Wochen randomisiert gegenüber einer Placebogruppe getestet. Wir erhoffen uns, dass sich das Darmmikrobiom verbessert und nicht nur weniger Darmbakterien, sondern auch weniger Entzündungsbotenstoffe ins Pfortaderblut übertreten und somit die Leber und der systemische Blutkreislauf weniger belastet werden. Dadurch erwarten wir auch einen Abfall des Pfortaderdrucks.

Die dritte Studie behandelt Patient:innen mit Blutgefäß-Erkrankungen der Leber, aber ohne Leberzirrhose, mit dem neuartigen und direktwirkenden Blutverdünnungsmedikament Edoxaban. Dies soll den Pfortaderhochdruck senken, nachdem Patient:innen mit Blutgefäß-Erkrankungen der Leber oftmals eine Neigung zu Gerinnselbildung, vor allem einer Thrombose, im Pfortadergebiet haben. Hier werden die Patient:innengruppen in einem Cross-over-Design randomisiert, was bedeutet, dass die Patient:innen entweder zuerst ein Jahr therapiert und dann ein Jahr beobachtet werden oder in der anderen randomisierten Gruppe zuerst ein Jahr beobachtet und dann erst therapiert werden. Hier gilt es vor allem die Sicherheit dieser Therapie zu etablieren, denn eine Komplikation der portalen Hypertension sind ja Blutungen. Erste experimentelle Studien und klinische Daten sprechen für ein gutes Sicherheitsprofil und auch eine gute Wirksamkeit einer Blutverdünnungstherapie, inklusive Edoxaban.

Diese klinischen Studien werden durch mechanistische, translationale und Grundlagenforschung ergänzt, die wir an der Medizinischen Universität Wien, an den Abteilungen für Gastroenterologie und Hepatologie, für Anästhesie sowie für Radiologie am Universitätsklinikum AKH Wien gemeinsam mit Partnern am CeMM der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, insbesondere Forschungsgruppenleiterin Dr. Laura de Rooij, durchführen.

Wieso braucht es ein Förderprogramm für klinische Forschungsgruppen wie das der Ludwig Boltzmann Gesellschaft?

Durch aufwändige Regulatorien und hohe Kosten der Arzneimittelbehörde EMA für die Durchführung von klinischen Arzneimittel-Studien und die zwar sinnvollen, aber weitreichenden ethischen Bestimmungen ist es aktuell für klinisch tätige Ärzte kaum mehr möglich, akademische – also nicht durch Pharmaindustrie unterstützte – Arzneimittelstudien durchzuführen. Die existierenden Förderprogramme von FWF und anderen Konsortien bieten vor allem Unterstützung für Grundlagenwissenschaften. Wenn Medikamente zum Einsatz kommen, gab es für diese Art der klinischen Forschung bisher keine adäquate Förderung. Warum? Weil man, sobald Medikamente getestet werden, allgemein der Auffassung ist, dass das doch Aufgabe der pharmazeutischen Industrie sei. Die von uns in den Studien eingesetzten Wirkstoffe werden jedoch weitgehend nicht mehr unter Patentschutz vertrieben. Somit existieren auch keine Industrie-Interessen mehr, um unsere Arzneimittelstudien finanziell zu unterstützen. Beziehungsweise handelt es sich auch teilweise um „riskante“ Forschung außerhalb der eigentlichen Anwendung, der Indikation.

Gerade oft benachteiligten und stigmatisierten Gruppen von Patient:innen mit Lebererkrankungen, zum Beispiel Hepatitis C, wird häufig Alkohol- oder Drogensucht und somit „Eigenschuld“ an ihrer Erkrankung vorgeworfen. Diese Gruppen werden von der Förderung für unsere klinische Forschungsgruppe MOTION durch die Ludwig Boltzmann Gesellschaft besonders profitieren. Wir haben in der Hepatologie durch dieses Förderprogramm die einzigartige Möglichkeit bekommen, unabhängig von der Industrie klinische Studien mit vielversprechenden Medikamenten durchzuführen, um mögliche effektive Therapieansätze für unsere Patient:innen mit portaler Hypertension zu entwickeln.

a. Prof. Doz. Dr. Thomas Reiberger © Medizinische Universität Wien

Interview mit Elizabeth Eisenhauer, Klinische Forscherin

In ihrer über dreißigjährigen Karriere leitete Dr. Elizabeth Eisenhauer OC, MD, FRCPC, FRSC eine Vielzahl nationaler und internationaler klinischer Studien mit Schwerpunkt Krebsforschung. Darüber hinaus war sie in zahlreichen Führungspositionen tätig, unter anderem als Präsidentin des National Cancer Institute of Canada und als Vorsitzende der Research Advisory Group der Canadian Partnership Against Cancer. Im Jahr 2014 wurde sie Leiterin und Professorin der Abteilung für Onkologie an der Queenʼs University. Dr. Eisenhauer ging 2023 in den Ruhestand, ist aber weiterhin an einer Reihe von Aktivitäten im Zusammenhang mit klinischen Studien und der Arzneimittelentwicklung in der Onkologie beteiligt. Dr. Eisenhauer wird am International Forum on Clinical Research der Ludwig Boltzmann Gesellschaft im Mai 2024 als Vortragende von ihren Erfahrungen berichten.

Warum sind klinische Forschung und klinische Studien wichtig?

Während die Grundlagenforschung Hypothesen über potenzielle neue Behandlungen oder Diagnosen liefert, sind klinische Studien die einzige Möglichkeit, herauszufinden, ob sich diese grundlegenden Entdeckungen in positive Wirkungen beim Menschen umsetzen lassen. Leider haben Behandlungen, die sich bei Mäusen oder anderen Tieren als wirksam erwiesen haben, bei Menschen oft nicht die gleichen Auswirkungen. Es können andere Toxizitäten und Nebenwirkungen auftreten als erwartet und sie können weniger wirksam sein.

Die Covid-Pandemie hat uns einige sehr gute Beispiele dafür geliefert, wie gefährlich es ist, anzunehmen, dass Behandlungen, die im Labor wirksam zu sein scheinen, auch beim Menschen funktionieren. So wurde beispielsweise Hydroxychloroquin als wirksame Covid-Behandlung angepriesen, bis gut konzipierte klinische Studien zeigten, dass es nichts bewirkt. In ähnlicher Weise wurde Ivermectin als Behandlung angepriesen – bis klinische Studien zeigten, dass es nicht wirksam war. Dies unterstreicht, wie naiv wir manchmal sind, wenn es darum geht, von der Grundlagenforschung auf den Menschen zu schließen, und warum wir die Sicherheit, die Toxizität und den Nutzen von Behandlungen durch sorgfältig konzipierte Studien unter der Aufsicht von Ethikausschüssen und staatlichen Aufsichtsbehörden ergründen müssen.

Wie erfolgt die Übersetzung von der Grundlagenforschung in klinische Studien?

Die Ideen für klinische Studien stammen hauptsächlich aus zwei Quellen. Die erste ist die Translation von Arbeiten an Labormodellen von Krankheiten. Bevor jedoch eine neue Behandlung an Patient:innen angewandt werden kann, müssen Laborstudien durchgeführt werden, um die Sicherheit an Tieren nachzuweisen und die Dosis festzulegen. Außerdem muss die Herstellung eines neuen Arzneimittels den internationalen Vorschriften entsprechen. Wenn alle diese Daten zusammengetragen sind, kann ein Protokoll für klinische Studien an Patient:innen erstellt werden.

Die zweite Quelle für Ideen für klinische Studien kommt aus der Klinik selbst. Kliniker:innen und andere in der Patientenversorgung tätige Personen machen möglicherweise Beobachtungen oder entwickeln Fragestellungen auf der Grundlage dessen, was sie in der Praxis sehen. Viele Jahre lang war man zum Beispiel der Meinung, dass man zur Behandlung von Brustkrebs die gesamte Brust, einen Teil der Brustwand und die Lymphknoten unter dem Arm entfernen muss. Doch viele Ärzt:innen – und Patientinnen – begannen sich zu fragen, ob dies angesichts neuer Erkenntnisse über die Ausbreitung von Brustkrebs überhaupt noch notwendig war. Es stellte sich also die Frage: Vielleicht können wir weniger operieren und die gleichen Ergebnisse erzielen, ohne eine so drastische Operation durchzuführen. Diese Frage führte zu einer großen klinischen Studie, in der die alte „Standard“-Operation mit einem weniger aggressiven chirurgischen Verfahren verglichen wurde. Dabei stellte sich heraus, dass die weniger aggressive Operation genauso wirksam war. Dieses Ergebnis hat die Art und Weise, wie wir Brustkrebs behandeln, grundlegend verändert. Daher äußern Kliniker:innen und Patient:innen selbst oft Bedenken oder fragen sich, ob es andersartige Behandlungsansätze gibt, was dann zu Studien führt. Was wäre zum Beispiel, wenn wir zwei Medikamente kombinieren würden? Oder was wäre, wenn wir weniger operieren würden? Oder wie wäre es, wenn wir ein bereits vorhandenes Medikament durch ein anderes, bereits verfügbares ergänzten? Das sind die Fragen, die aus dem klinischen Bereich kommen.

Welche Arten von Finanzierungssystemen gibt es und welche Vor- und Nachteile haben sie?

Die Finanzierung klinischer Studien ist weltweit sehr unterschiedlich organisiert. In einigen Disziplinen, insbesondere in der Onkologie, hat sich vor einigen Jahrzehnten gezeigt, dass es sehr effizient ist, Forschungsprogramme zu entwickeln, bei denen eine Gruppe oder ein Netzwerk für klinische Studien finanziert wird. Diese können Jahr für Jahr zahlreiche Forschungsprojekte oder Studien durchführen, im Gegensatz zur wiederholten Finanzierung einzelner Projekte. Der Ansatz, einzelne klinische Studien projektweise zu finanzieren, kann ein effektives Netzwerk schaffen, aber wenn es vorbei ist, gehen die Teilnehmer:innen wieder ihre eigenen Wege, und man muss das Netzwerk danach neu aufbauen. Durch eine programmatische Finanzierung akademischer klinischer Forschungsnetze können diese hochqualifiziertes Personal an sich binden. In vielen Ländern hat der Staat die Grundfinanzierung solcher Netze übernommen, um die Infrastruktur zu unterstützen. Diese Gruppen werben dann zusätzliche Mittel aus der Privatwirtschaft oder von wohltätigen Stiftungen für die Projektunterstützung ein.

Die Unterstützung der Privatwirtschaft für bestimmte Versuche wird jedoch immer wichtig sein. Die Industrie hat ein ureigenes Interesse daran, dass mit ihren Produkten hochwertige Studien durchgeführt werden. Daher arbeiten sie manchmal mit akademischen Forschungsgruppen und -netzwerken zusammen. In diesem Fall liegt die Aufsicht über die Studie bei den Akademiker:innen. Alternativ können Firmen die Studien auch selbst auf Projektbasis durchführen, indem sie Einrichtungen und Kliniker:innen für die Durchführung der Studie rekrutieren und dabei selbst beaufsichtigen.

Alle diese Finanzierungsmechanismen haben ihre Vor- und Nachteile. Gegenwärtig werden – zumindest im Bereich der Onkologie – viel mehr klinische Studien von der Pharmaindustrie unterstützt und/oder gesponsert als von der Regierung oder dem gemeinnützigen Sektor. Das ist bedauerlich, denn viele Fortschritte bei der Behandlung von Krankheiten gehen auf die Überlegungen von Kliniker:innen zurück, wie man Dinge besser machen könnte. Und wenn nicht gerade ein Pharmaunternehmen beteiligt ist, bekommen sie manchmal einfach kein Geld für die Forschung.

Gibt es weitere Vorteile klinischer Studien auf systemischer Ebene?

Meiner Meinung nach sollten öffentlich finanzierte Gesundheitssysteme in klinische Studien investieren, insbesondere um Probleme anzugehen, die dem gesamten System zugutekommen könnten. Es gibt viele Fragen dazu, wie wir zum Beispiel aktuelle Behandlungen oder Diagnosen besser nutzen können. Dies könnte nicht nur zu besseren Ergebnissen für die Patient:innen führen, sondern auch zu Kostensenkungen.

Zusätzlich zu den oben genannten Beobachtungen gibt es einige Daten, die darauf hindeuten, dass Patient:innen, die in einer Klinik mit aktiver klinischer Forschung behandelt werden, bessere Resultate aufweisen als jene, die an einer Einrichtung ohne aktives Forschungsprogramm behandelt werden. Wichtig ist, dass dies nicht daran liegt, dass alle Patient:innen in Studien aufgenommen werden. Nur eine Minderheit nimmt überhaupt an klinischen Studien teil. Forschung hat außerdem gezeigt, dass die Teilnahme an Studien nicht unbedingt zu besseren individuellen Ergebnissen führt – Teilnehmer:innen können zwar besser abschneiden, aber das liegt hauptsächlich an den Auswahlkriterien der Studien. Vielmehr scheint diese Beobachtung eher auf die Tatsache zurückzuführen zu sein, dass solche forschungsintensiven klinischen Einrichtungen als „Nebeneffekt“ ihres Forschungsengagements über Managementprotokolle verfügen, welche die besten Pflegestandards und vielleicht auch bessere klinische Prozesse vorsehen. Studien haben dieses Phänomen für Patient:innen mit Herzkrankheiten, Eierstockkrebs, Darmkrebs, Myelom und Brustkrebs dokumentiert. Dies ist ein weiteres wichtiges Argument für die Normalisierung klinischer Forschung und dafür, sie zu einem Teil der Behandlungskultur zu machen.

a. Dr. Elizabeth Eisenhauer OC, MD, FRCPC, FRSC © Elizabeth Eisenhauer, Queen’s University

Impressum

Projektkoordination
Mag. Werner Fulterer
PR & Communications Expert
Ludwig Boltzmann Gesellschaft

Texte und Interviews
Thomas Zauner, Science Writer

Lektorat
Mag.a Verena Hauser, Schreibgut

Wien, 2024