Title: Dossier

Übersicht

Das vorliegende Dossier bietet eine Einführung zum Thema Netzwerkmedizin und zum neugegründeten LBI NetMed in Wien.

Auf dieser Seite

Einleitung

In der Medizin ist alles mehr als die Summe seiner Teile. Kein Enzym wirkt alleine, kein Gen kann ohne eine ganze Transkriptionsmaschinerie ausgedrückt werden und kein Organ funktioniert ohne den Körper rundherum. Auf allen Skalen im menschlichen Körper bilden Netzwerke von Molekülen, Zellen, Organen und vielem mehr das Grundgerüst seiner Funktionen. Das Ludwig Boltzmann Institut für Netzwerkmedizin erforscht auf vielfältige Art und Weise diese Verbindungen und was sie uns über unseren Körper und unsere Gesundheit lehren können.

Ob der Stoffwechsel im menschlichen Körper, das globale Stromnetz oder die Verbindungen von Menschen in sozialen Medien – komplexe System und Netzwerke sind überall. In der Medizin spielen sie eine besondere Rolle, da sie es Forscher:innen erlauben, die vielschichtigen Interaktionen von Proteinen, DNA und vielerlei anderen Stoffwechselprodukten im menschlichen Körper besser zu verstehen. Doch noch sind viele Fragen über die Netzwerke in der Medizin unbeantwortet.

Das 2024 neu etablierte und von Scientific Director Jörg Menche geleitete Ludwig Boltzmann Institut für Netzwerkmedizin der Ludwig Boltzmann Gesellschaft widmet sich diesen Fragestellungen mit inter- und transdisziplinären Zugängen. Die drei Forschungsgruppen von Jörg Menche, André Rendeiro und Julia Guthrie decken zusammen mit der Querschnittsgruppe für Visualisierung alle Skalen von Netzwerken in der Medizin ab – von Proteinen über Zellen und Organe bis hin zu Populationen.

Mit ihrer Forschung möchten die Wissenschafter:innen nicht nur die grundlegenden Mechanismen im menschlichen Körper besser verstehen, sondern auch zur Entwicklung neuer Therapieansätze beitragen. Darüber hinaus entwickeln sie digitale Werkzeuge, die es ihnen erlauben, die hochkomplexen Datensätze und Netzwerke in virtueller Realität zu visualisieren und zu erforschen.

Dieses Dossier enthält eine kleine Einführung in das Feld der Netzwerkmedizin, stellt das Ludwig Boltzmann Institut für Netzwerkmedizin vor und bietet Einblick in seine Arbeit mittels zweier Interviews mit Forschenden.

Was ist Netzwerkmedizin?

Die Grundlage für Netzwerkmedizin sind komplexe Systeme und Netzwerktheorie. Ein System wird als komplex betrachtet, wenn es aus vielen einzelne Bausteinen besteht, die miteinander wechselwirken und dadurch neue – emergente – Verhaltensmuster, Strukturen und Prozesse erzeugen. Netzwerke sind die mathematischen Werkzeuge, um diese Systeme zu untersuchen. In der Netzwerkmedizin kommen beide Zugänge zusammen, um den menschlichen Körper besser zu verstehen.

Komplexe Systeme

Komplexe Systeme findet man unter anderem in der Physik, der Biologie, den Wirtschafts- oder Sozialwissenschaften. Sie können eine Ansammlung von Molekülen und deren Interaktionen, die Stoffwechselkreisläufe im menschlichen Körper, das Netzwerk zwischen Menschen in sozialen Medien oder miteinander handelnde Firmen in einer Branche sein.

Ein einzelnes Molekül ist ein relativ einfaches System, aber eine große Menge davon hat emergente Eigenschaften, die zum Beispiel festlegen, ob sie fest, flüssig oder gasförmig sind. Der menschliche Stoffwechsel besteht aus einer Unzahl an Interaktionen von Proteinen, Enzymen, Genen und vielen weiteren Faktoren, die gemeinsam den Körper am Leben erhalten. Das kollektive Verhalten von Menschen in sozialen Medien kann Trends erzeugen und Information wie Memes oder Falschnachrichten weit verbreiten.

Im Gegensatz zu vielen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich auf die einzelnen Teile eines Systems und deren Beschaffenheit konzentrieren, nimmt die Perspektive der komplexen Systeme Abstand und betrachtet das System als ein ganzes. Dazu abstrahieren Forscher:innen Systeme aus der realen Welt, um sie zu vereinfachen und deren essentiellen Eigenschaften herauszuarbeiten. Damit möchten sie die Gesetzmäßigkeiten finden, die all diesen sehr verschiedenen Systemen zugrunde liegen. Dazu nutzen die Forscher:innen oftmals Netzwerke als mathematisches Werkzeug, um diese Systeme mathematisch zu beschreiben.

Netzwerke

Ein Netzwerk ist eine Ansammlung an Punkten – genannt Knoten – und Linien – genannt Kanten –, die sie verbinden. Die Knoten stellen die einzelnen Komponenten des Systems dar, von Molekülen bis zu ganzen Menschen oder Firmen. Die Kanten zeigen die jeweiligen Interaktionen zwischen den Komponenten an.

Netzwerke können vielerlei Gestalt annehmen: Die Anzahl der Verbindungen pro Knoten kann sehr gleichmäßig verteilt sein, sodass im Durchschnitt jeder Knoten gleich viele Kanten besitzt, oder sie kann auf wenige Knoten mit jeweils sehr vielen Kanten konzentriert sein. Die Kanten können auch Information über Richtung beinhalten – dargestellt durch einen Pfeil –, etwa um eine gerichtete Interaktion wie einen Verkauf eines Produkts in einem Handelsnetzwerk darzustellen. Ein Netzwerk kann sogar verschiede Arten von Knoten und Kanten enthalten, um noch komplexere Systeme abzubilden. Des Weiteren müssen Netzwerke nicht statisch sein, sondern können sich über die Zeit verändern, indem Knoten und Kanten dazukommen oder wegfallen.

Die Wissenschaft der komplexen Systeme nutzt diese Darstellungsform, um Systeme zu modellieren und mittels mathematischer Verfahren Aussagen über sie treffen zu können. Forscher:innen können damit Zusammenhänge zwischen bestimmten Genen und Krankheiten finden, die Robustheit von Computer- oder Stromnetzwerken bewerten oder die Verbreitung von Information durch besonders gut vernetzte Akteure in sozialen Medien nachvollziehen.

Forscher:innen stoßen dabei aber auch auf Grenzen. Etwa wenn sie nicht genug Informationen über die realen Systeme haben, die sie modellieren möchten, um sie korrekt darzustellen. Eine andere Schwierigkeit kann die schiere Anzahl der Knoten, Kanten und deren Eigenschaften sein, die es den Wissenschafter:innen und ihren Computersystemen schwer macht, mit ihnen umzugehen und Erkenntnisse daraus zu gewinnen.

Netzwerkmedizin

Auch in der Medizin spielen Netzwerke eine wichtige Rolle und sind vielseitig einsetzbar. Dabei nutzen Forscher:innen drei Kategorien von Netzwerken: Molekulare Netzwerke, um die Interaktionen von Proteinen, Enzymen und anderen Stoffen im menschlichen Stoffwechsel zu modellieren. Krankheitsnetzwerke, um Zusammenhänge zwischen bestimmten Genen oder anderen Stoffwechselprodukten und deren vielfältige Kombinationen mit Krankheiten zu finden. Und Populationsnetzwerke, um etwa die Ausbreitung von Infektionen während einer Pandemie zu untersuchen.

Molekulare Netzwerke

Molekulare Netzwerke können grob in zwei Kategorien eingeteilt werden: einerseits Netzwerke, die physikalische Interaktionen darstellen und andererseits jene, die auf abstrakteren funktionellen Zusammenhängen basieren.

Protein-Protein-Interaktion-Netzwerke modellieren das biophysikalische Verhalten von Proteinen im menschlichen Körper, welches die Grundlage vieler seiner Funktionen bildet. Die Mechanismen, die bestimmen welches Protein wie mit einem oder mehreren anderen zusammenspielt, sind aufgrund der Zusammensetzung und Faltung der Moleküle nicht nur komplex, sondern auch hochspezifisch. Nur bestimmte Proteine können bestimmte Aufgaben erfüllen. Wenn diese engmaschigen Netzwerke gestört sind – etwa, wenn ein Protein falsch gefaltet ist –, kann das zu vielen verschiedenen Krankheitsbildern, von Diabetes bis zu Krebs, beitragen. Eine große Menge Daten über die Protein-Protein-Interaktion-Netzwerke im menschlichen Körper wurde über die letzten Jahrzehnte gesammelt, doch es wird vermutet, dass erst maximal 30 Prozent aller Interaktionen dokumentiert wurden. Forscher:innen nutzen moderne Algorithmen, um diese Daten zu analysieren und noch unerforschte Netzwerkverbindungen vorherzusagen.

Metabolische Netzwerke gehen einen Schritt weiter als Protein-Protein-Interaktion-Netzwerke und inkludieren neben Proteinen sowohl andere Stoffwechselkomponenten als auch Gene und deren Expression – also welche Proteine durch ein Gen produziert werden. Das gegenwärtig umfangreichste Modell des metabolischen Netzwerks des menschlichen Körpers umfasst tausende Moleküle, Reaktionen und Gene. Solche Modelle erlauben es den Wissenschafter:innen, am Computer die Beschaffenheit, Konzentrationen und Interaktionsformen verschiedener Teile des Netzwerks zu verändern, um deren Auswirkungen zu simulieren. Damit können sie die Entstehung von Krankheiten besser erklären und die Wirkungen von Medikamenten teilweise vorhersagen.

Genregulationsnetzwerk fokussieren sich auf die Interaktionen zwischen verschiedenen Genen, die bestimmen, welche Genexpression gefördert und welche unterdrückt werden. Das passiert mittels spezifischer Proteine und RNA-Stücke, die auf bestimmten Genen basieren. Diese Proteine und RNA-Stücke können dann je nach Umwelteinflüssen und Interaktionen mit anderen Molekülen die Expression anderer Gene steuern. Das kann auf eine Vielzahl verschiedener Arten passieren, weshalb das Netzwerkmodell viele verschiedene Formen von Knoten und Kanten beinhalten muss und damit enorm komplex wird. Genregulationsnetzwerk können Forscher:innen insbesondere Aufschluss über die Entwicklung des menschlichen Körpers von der Eizelle bis zum Erwachsenenalter und die damit zusammenhängenden Krankheitsbilder geben.

Gen-Co-Expression-Netzwerke bilden abstrakte funktionale Zusammenhänge zwischen verschiedenen Genen ab. Gene stellen die Knoten des Netzwerks dar und sie sind mit einer Kante verbunden, wenn beide zu einem signifikanten Maß unter bestimmten Bedingungen – beispielsweise bei Krankheiten – aktiv werden und Proteine erzeugen. Diese Netzwerke zeigen keine direkten kausale Zusammenhänge an, doch sie können Wissenschafter:innen dabei helfen, Gruppen von Genen zu identifizieren, die durch dieselben Mechanismen reguliert werden oder für bestimmte Stoffwechselvorgänge verantwortlich sind. Dadurch können sie helfen, komplexe Phänomene wie Autismus-Spektrum-Störung oder chronisch-entzündliche Darmerkrankungen zu erklären, die auf den Interaktionen vieler verschiedener Gene beruhen.

Geninteraktionsnetzwerke basieren darauf, dass zwei Gene miteinander verbunden sind, wenn eine gleichzeitige Änderung beider Gene einen anderen Effekt hat, als wenn nur jeweils eines der beiden verändert wird. Solch ein funktionaler Zusammenhang kann Forscher:innen zeigen, welche Gene Teil von biologischen Prozessen sind und ihnen daher helfen, diese zu verstehen und neue therapeutische Maßnahmen wie Medikamenteneinsatz zu identifizieren.

Krankheitsnetzwerke

Krankheitsnetzwerke gehen in ihrer Abstraktion der Wirklichkeit einen Schritt weiter als molekulare Netzwerke und basieren auf verschiedenen Zusammenhängen zwischen einzelnen Krankheiten.

Krankheiten – die Knoten des Netzwerks – können durch ihre genetischen Ursachen verbunden sein. Auf dieser molekularen Ebene konnten bisher mehrere Tausend menschliche Krankheiten kartiert werden. Diese Ergebnisse zeigen, dass Krankheiten meist nicht vereinzelt auftreten, sondern Gruppen mit ähnlichen genetischen Ursachen bilden. Des Weiteren wurde deutlich, dass Krankheiten in derselben Gruppe auch ähnliche Stoffwechselprozesse und Genexpressionen teilen. Diese Erkenntnisse helfen Forscher:innen dabei, neue Therapieformen zu entwickeln. Zum Beispiel können teilweise Medikamente, die für eine Krankheit entwickelt wurden, bei einer anderen in derselben Gruppe ebenso eingesetzt werden.

Eine weitere Art, Krankheiten in einem Netzwerk zu verbinden, basiert auf der Ähnlichkeit ihrer klinischen Krankheitsbilder. Diese Daten zeigen deutlich, dass ähnliche Symptome auf gemeinsame genetische Ursachen und vermehrte Interaktionen relevanter Proteine hindeuten.

Eine dritte Art, wie Krankheitsnetzwerke gebildet werden können, verbindet zwei Krankheiten, wenn Komorbidität vorliegt. Komorbidität beschreibt die Tendenz bestimmter Krankheiten gleichzeitig aufzutreten. Zum Beispiel zeigen zentrale Krankheiten in diesem Netzwerk eine höhere Sterblichkeitsrate. Diese Netzwerke können auch dazu dienen, Nebeneffekte von Medikamenten zu identifizieren oder genetische von Umwelteinflüssen als Ursachen von Krankheiten zu unterscheiden.

Populationsnetzwerke

Populationsnetzwerke stellen Interaktionen zwischen Menschen auf verschiedene Weisen dar. Damit kann die Ausbreitung von Infektionskrankheiten wie Schweingrippe oder Ebola erfolgreich modelliert und vorhergesagt werden.

Bei Populationsnetzwerken ist die zugrundeliegende Struktur auf Basis realer Gegebenheiten ausschlaggebend dafür, wie sie funktionieren und welche Erkenntnisse man daraus ableiten kann. Solche Netzwerke können auf sozialen Beziehungen wie Familien oder Freundesgruppen, auf gemeinsamen Aufenthaltsorten wie dem Zuhause oder dem Arbeitsplatz, auf gemeinsamen politischen Einstellungen oder auch auf Transportnetzwerken auf Skalen von einer einzelnen Stadt bis hin zum gesamten Globus basieren.

Diese vielschichtigen sozialen Netzwerke können aber nicht nur die Ausbreitung von Infektionskrankheiten abbilden, sondern auch Aufschluss darüber geben, welche sozialen Faktoren zu nicht-infektiösen Krankheiten wie etwa starker Übergewichtigkeit beitragen. Des Weiteren können solche Modelle auch dazu genutzt werden, die Verbreitung von Ideen, Einstellungen und Verhalten von Menschen zu modellieren.

a. Illustration 1: Grundlegende Konzepte der Netzwerktheorie © Thomas Zauner/LBG
b. Illustration 2: Netzwerke auf verschiedenen Skalen in der Medizin © Thomas Zauner/LBG

Ludwig Boltzmann Institut für Netzwerkmedizin

Das Ludwig Boltzmann Institut für Netzwerkmedizin hat zum Ziel, einen ganzheitlichen, netzwerkbasierten Blick auf den menschlichen Körper zu entwickeln. Die Forscher:innen möchten verstehen, was bei einer Erkrankung in diesen komplexen Netzwerken, die sich von der molekularen Ebene bis zu ganzen Gesellschaften erstrecken, passiert. Diese Forschung soll in weiterer Folge helfen, neue therapeutische Ansätze zu entwickelt. Damit bildet es mit seinen akademischen Freiräumen eine Brücke für Innovationen zwischen Grundlagenforschung und klinischer Anwendung.

Das Ludwig Boltzmann Institut für Netzwerkmedizin wurde im Februar 2024 öffentlich präsentiert und nahm im Laufe des Jahres seine Tätigkeit auf. Das Institut ist an der Universität Wien angesiedelt und verfügt über ein Budget von maximal 1,5 Millionen Euro pro Jahr. Die Laufzeit des Instituts ist auf sieben Jahre angelegt, mit der Möglichkeit einer Verlängerung um weitere drei Jahre.

Jörg Menche leitet als Scientific Director das Institut, das aus drei Forschungsgruppen besteht, welche Netzwerke im medizinischen Kontext auf drei verschiedenen Skalen beforschen und dabei im regen Austausch stehen. Die Gruppen werden von Jörg Menche selbst, André Rendeiro und Julia Guthrie geleitet. Zusätzlich existiert eine Querschnittsgruppe, die sich mit Visualisierungen von und Datenexploration in Netzwerken befassen.

Um diesen vielfältigen Themenkomplex umfassend erforschen zu können, klinische Translation von Wissenschaft in Anwendung zu ermöglichen und konkrete Ressourcen für die Forschungsgemeinschaft zu entwickeln, sind die Teams am Ludwig Boltzmann Institut für Netzwerkmedizin multidisziplinär aufgestellt. Die Hintergründe der Mitarbeiter:innen reichen von Bioinformatik und Computerwissenschaften über Physik und Mathematik bis hin zu Architektur und digitaler Kunst. Insbesondere letztere helfen der Querschnittsgruppe komplexe Netzwerke durch Visualisierungen in virtueller Realität zugänglich zu machen.

Jörg Menche

Das Team rund um Jörg Menche beschäftigt sich hauptsächlich mit Netzwerkmedizin auf molekularer Ebene mit einem Fokus auf Protein-Protein-Interaktion-Netzwerke. In ihrer bisherigen Arbeit untersuchten die Forscher:innen beispielsweise die zugrundeliegenden Mechanismen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen – einer der weltweit führenden Todesursachen. Dazu nutzten sie Netzwerke, welche die Erkrankungen mit den verantwortlichen Genen, Proteinen und anderen Faktoren verbinden. Damit möchten sie das komplexe Geflecht an Interaktion, das hinter diesen Erkrankungen steht, entwirren und zur Entwicklung von effektiveren Behandlungsmethoden beitragen.

In einer weiteren Studie beforschten sie seltene Krankheiten, die oftmals durch eine einzelne Mutation in einem Gen verursacht werden. Dabei nutzten sie Netzwerke, um den Einfluss dieser Mutation über mehrere Skalen im Körper nachzuvollziehen. Das resultierende Netzwerk umfasst mehr als 20 Millionen Verbindungen zwischen verschiedenen Genen. Damit konnten die Wissenschafter:innen den Einfluss von Mutationen von tausenden seltenen Krankheiten auf verschiedene Systeme im Körper klar aufzeigen.

Nach einem Studium der Physik und einer Promotion am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung arbeitete Menche mit Albert-László Barabási an der Northeastern University und der Harvard Medical School in Boston zusammen, bevor er 2015 seine eigene Forschungsgruppe am CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gründete. Im Jahr 2020 wurde er ordentlicher Professor an der Universität Wien, wo er eine gemeinsame Stelle am Zentrum für Molekularbiologie (Max Perutz Labs) und an der Fakultät für Mathematik innehat.

André Rendeiro

André Rendeiro und seine Forschungsgruppe konzentrieren sich bei ihrer Arbeit auf Netzwerke auf der Ebene von Zellen, Zellverbänden, Geweben und Organen. Die Wissenschafter:innen wollen die Architektur verschiedener Organe über anatomische Schichten hinweg verstehen: von der zellulären Ebene über die Gewebeebene bis hin zur Ebene des gesamten Organs und wie die von diesen Organisationsebenen gebildete Architektur sich auf Gesundheit und Krankheit auswirkt. Zu diesem Zweck verwenden die Forscher:innen Daten, die nicht nur Informationen über RNA und andere Stoffwechselprodukte enthalten, sondern auch die Position, Form und Organisation der untersuchten Zellen mit Hilfe hochauflösender Bildgebungsverfahren. Die Überlagerung dieser Informationen mit demografischen, lebensgeschichtlichen und klinischen Daten von einzelnen Personen hilft zu erklären, wie sich Gewebe bildet und wie sich Krankheiten entwickeln.

Rendeiro schloss sein Doktorat in Molekularer Medizin am CeMM in Wien ab und entwickelte im Labor von Christoph Bock Methoden zur Erstellung von Zellprofilen mit Einzelzellauflösung, die er auf Leukämie anwandte. Zwischen 2020 und 2022 entwickelte er am Weill Cornell Medicine in New York computergestützte Methoden zur Analyse komplexer bildgebender Verfahren. Außerdem war er an der ersten gewebebasierten, einzelligen Kartierung von Lungenerkrankungen während COVID-19 beteiligt.

Julia Guthrie

Julia Guthrie und ihr Team untersuchen Netzwerke auf der Populationsebene mittels anonymisierter Daten aus Patientenakten und -geschichten von bis zu Millionen von Betroffenen. Insbesondere geht es dabei darum, die grundlegenden molekularen Zusammenhänge zwischen verschiedenen Krankheiten zu verstehen, um neue Anwendungsgebiete für existierende Arzneimittel zu finden.

In einer ihrer neuesten Studien klassifizierte Guthrie über 180 seltene Autoimmun- und autoinflammatorischen Erkrankungen wie chronisch entzündliche Darmerkrankungen oder Multiple Sklerose. Das passierte auf Basis derer zugrunde liegenden Genmutationen und deren Auswirkungen auf molekulare Interaktionen im Körper. Zusammen mit ihren Kolleg:innen zeigte sie, dass sich diese Erkrankungen in Gruppen zusammenfassen lassen, die auf ähnlichen Interaktionen von Molekülen im Stoffwechsel zurückzuführen sind. Durch den Vergleich ihrer Ergebnisse mit klinischen Daten konnten sie nachweisen, dass Patient:innen mit Erkrankungen innerhalb einer Gruppe auch auf die gleichen Medikamente ansprachen, was neue Möglichkeiten für Therapien eröffnen könnte.

Guthrie beforschte auch den Zusammenhang von chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen und genetisch veranlagten Defekten im Immunsystem und war an der Entwicklung der Virtual-Reality-Plattform der Menche-Forschungsgruppe zur Visualisierung von komplexen Netzwerken beteiligt.

Guthrie studierte Molekularbionik und Molekularmedizin in Budapest, Uppsala und London. Sie promovierte auf dem Gebiet der seltenen Krankheiten und der Netzwerkmedizin in der Gruppe von Kaan Boztug am CeMM in enger Zusammenarbeit mit der Gruppe von Jörg Menche.

Querschnittsgruppe Visualisierung

Die Querschnittsgruppe Visualisierung hat zum Ziel, die Zukunft der Erforschung von Daten – ihrer Exploration – neu zu denken. Die Problemstellung, der sich diese Gruppe widmet, ist die visuelle Komplexität von großen Netzwerken. Diese können am Papier oder Bildschirm aufgrund der vielen Knoten und Kanten oft nicht mehr verständlich dargestellt werden. Daher entwickelt die Gruppe verschiedene digitale Werkzeuge, um es anderen Wissenschafter:innen zu ermöglichen, diese Daten auf neue Art zu erforschen.

Dazu nutzen die Forscher:innen der Querschnittsgruppe insbesondere virtuelle Realität mit ihrer Softwareplattform VRNetzer. Damit werden Netzwerke dreidimensional erfahrbar, indem man sich im virtuellen Raum durch sie hindurchbewegen und man sie enorm vergrößern kann, um Details besser zu sehen. Mit diesen Visualisierungen waren die Wissenschafter:innen auch schon am Ars Electronica Festival und Ars Electronica Center vertreten, um ihre Forschung der Öffentlichkeit näher zu bringen.

Ein weiteres Thema der Querschnittsgruppe sind Machine-Learning-Algorithmen, um große Netzwerke in Echtzeit in virtuellen Räumen zu manipulieren und zu untersuchen. Außerdem arbeitet die Gruppe an Large-Language-Modellen – dieselbe Art von Algorithmen wie ChatGPT – auf Basis von Netzwerken. Diese sollen bei der Hypothesenfindung helfen, indem Forscher:innen in einem Chat-Interface Informationen über das Netzwerk erfragen und diese dann mit ihrer Expertise beurteilen.

Ludwig Boltzmann Institute for Network Medicine
a. Portrait Jörg Menche © CeMM/Menche Lab
b. Portrait André Rendeiro © Klaus Pichler/CeMM
c. Portrait Julia Guthrie © Julia Guthrie

Interview mit Jörg Menche, Scientific Director

„Netzwerke liefern eine gemeinsame Sprache“

Was bedeutet das neue Ludwig Boltzmann Institut für Netzwerkmedizin für Sie und Ihre Arbeit?

Menche: Das Ziel des Instituts ist es, weiter als nur akademische Proof-of-Concept-Studien zu gehen und das Wissen aus der Grundlagenforschung in Anwendungen umzusetzen. Wenn wir etwas Grundlegendes verstanden haben, dann können wir uns im nächsten Schritt fragen, wie man das zusammen mit Partnerorganisationen in konkrete klinische Fragestellungen übersetzen kann.

Das entspricht der Mission des Instituts, die von der Ludwig Boltzmann Gesellschaft ausgeht. Dieser Auftrag ermöglicht mit der langfristigen Finanzierung, den organisatorischen Hilfestellungen und der akademischen Freiheit ganz neue Spielräume in der Forschung und gesellschaftlichen Impact. Dieser Impact geht sogar über verbesserte oder neue Therapieformen hinaus und umfasst auch Wissenschaftskommunikation und sogar Kunst.

Als Institut hat man dafür auch mehr Ressourcen und Reichweite unter Partnerorganisationen als eine einzelne Forschungsgruppe. Ich freue mich darüber als Scientific Director größere gemeinsame Projekte mit allen vier Gruppen am Institut angehen zu können und herauszufinden, wie man so eine inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit am besten gestaltet.

Wie funktioniert die inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit am Institut?

Das ist gar nicht so einfach. Netzwerke liefern eine gemeinsame Sprache, mit der Leute aus verschiedenen Hintergründen zusammenkommen und eine gemeinsame Vorstellung entwickeln können. Selbst Forscher:innen, die in ihrer bisherigen Arbeit nichts mit Netzwerken zu tun hatten, können sich darunter relativ leicht etwas vorstellen.

Ein besonderer Aspekt meiner Gruppe und des neuen Instituts ist, dass Künstler:innen und andere designorientierte Personen voll in den Forschungsprozess integriert sind. Künstler:innen arbeiten schon seit Jahrzehnten mit virtueller Realität und haben damit technische und Design-Expertise gesammelt. Sie haben auch eine andere Art und Weise, mit komplexen Problemen umzugehen, und zeigen dabei eine gewisse Unverfrorenheit. Als Wissenschafter finde ich das spannend und inspirierend.

Wie kommt Ihre Forschung bei anderen Gebieten an?

Meiner Meinung nach sind Netzwerkmethoden in der Biologie inzwischen schon Standard geworden. In der Medizin ist das Denken in Netzwerken eher noch Avantgarde. Ich denke das kommt daher, dass manche Bereiche der Medizin in ihrem Verständnis der molekularen Mechanismen hinter Erkrankungen weiter sind als andere. Wenn ich auf Medizinkonferenzen Vorträge gebe, sehe ich, dass manche Menschen doch noch verwundert über den Netzwerkzugang sind.

Ein wichtiger Aspekt bei der Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen ist auch, Räume für Austausch zu schaffen. Die Universität Wien baut gerade einen neuen Forschungsverbund zum Thema Gesundheit in Gesellschaft auf, in dem sich Forscher:innen über Fakultäten hinaus vernetzen können. Ich bin da als Teil des Steering Committee dabei. Ich finde es dabei besonders wichtig anzuerkennen, dass Gesundheit mehr als nur eine medizinische Komponente hat und weit in andere Lebensbereiche hinein reicht, wie uns die Corona-Pandemie verdeutlicht hat.

Welche Limitationen hat der Zugang der Netzwerkmedizin?

Mir geht es besonders darum, von einem statischen Blick mit einem unveränderbaren Netzwerk zu dynamischeren Netzwerken zu kommen, deren Knoten und Kanten sich mit der Zeit verändern können. Darauf wird oft noch zu wenig Augenmerk gelegt.

Beispielsweise kann eine Störung in einem Protein-Protein-Interaktion-Netzwerk dazu führen, dass manche Interaktionen nicht mehr stattfinden, aber neue dazukommen. Ein Medikament ist auch ein dynamischer Eingriff in das Netzwerk im Körper. Wie wirken sich diese Änderungen im ganzen Netzwerk aus und wie kann man dies mathematisch darstellen und am Computer simulieren?

Eine weitere offene Frage ist, wie man komplexere Interaktionen von zwei oder mehr Molekülen richtig modelliert. Bisher hat man viele solcher komplizierteren Zusammenhänge in den Modellen ausgelassen, um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Doch vielleicht spielen diese komplexen Interaktionen ja auch eine wichtige Rolle, die wir bisher noch gar nicht verstanden haben.

All diese Probleme sollen am neuen Ludwig Boltzmann Institut für Netzwerkmedizin in der einen oder anderen Form auch angegangen werden.

a. Menche Forschungsgruppe © Menche Lab

Interview mit Christiane Hütter, Wissenschafterin und Künstlerin

„Kunst spielt bei uns eine wichtige Rolle“

Worum geht es in Ihrer Arbeit?

Hütter: Ich arbeite mit Netzwerken mit vielen Tausenden von Knoten und Kanten, die sich am Computer nur schwierig in einer verständlichen Form darstellen lassen. Ich möchte diese mittels virtueller Realität besser erfahrbar machen und Interaktionen mit natürlicher Gestik statt Tastatur und Maus ermöglichen.

Die Algorithmen, die wir dabei benutzen, stellen nicht nur die Netzwerke in 3D dar, sondern können die Knoten darin auch nach verschiedenen Kriterien gruppieren. Zum Beispiel können wir uns ein Krankheitsnetzwerk ansehen, in dem die Knoten die verschiedenen Proteine in einer Zelle darstellen und die Kanten zwischen ihnen ihre Interaktionen. Dort können wir die Proteine nach Krankheiten gruppieren lassen, sodass jene, die mit derselbe Krankheit zusammenspielen, im Netzwerk näher beieinander sind. Damit können wir komplexe Zusammenhänge einfacher verstehbar machen.

Was ist die Multi-Media-Kitchen?

Die Multi-Media-Kitchen ist ein vielseitiger Raum, in dem wir zusammen im selben virtuellen Space arbeiten, Audio und Video professionell aufnehmen und mit Technologien experimentieren können.  Mit meinen Visualisierungen bin ich da mittendrin. Das hilft uns nicht nur komplexe Netzwerke darzustellen, sondern auch bei unserer Kommunikation nach außen mit anderen Wissenschafter:innen und der Öffentlichkeit.

Welche Bedeutung hat Kunst in Ihrer Arbeit?

Kunst spielt bei uns eine wichtige Rolle. Viele in unserer Forschungsgruppe haben aufgrund ihrer Hintergründe von Architektur über Grafikdesign bis virtuelle und digitale Kunst Erfahrungen mit Visualisierungen. Wir haben auch großartige Chancen immer wieder Ausflüge in die Kunst jenseits der Forschung zu machen. Zum Beispiel stellten wir während des Ars Electronica Festivals 2021 die Installation Entangled Realities im Deep Space 8k Raum des Ars Electronica Centers in Linz aus. Diese Installation zeigte in künstlerischer Form die Diversität der komplexen Systeme, die unsere menschliche Umwelt formen. Beim Festival in 2022 waren wir mit der mixed-reality Ausstellung The Shape of Things to Come dabei, die sich mit der Zukunft unserer Umwelt beschäftigte. Und nun sind wir mit Connected – How the world is more than a some of its parts auch in der Dauerausstellung des Ars Electronica Centers vertreten, wo wir auch die komplexen Netzwerke unserer Welt auf visuell beeindruckende Art darstellen.

Bei diesen Projekten sind alle Gruppenmitglieder in den unterschiedlichsten Rollen, von Kunstkreation und wissenschaftlicher Expertenberatung bis hin zu Ausstellungsorganisation und Installationsbetreuung involviert und es ist sogar eine Form von Teambuilding. Aber das Thema Kunst schwingt in allen Tätigkeiten der Gruppe mit und ich bin froh darüber, dass wir es auch ernst nehmen und ihm Ressourcen geben.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft Ihrer Forschung?

Der Ziel ist, eine gemeinsame Plattform als Werkzeug zu schaffen, mit dem man große Datensätze und Netzwerke mit virtueller Realität und Analysealgorithmen erforschen kann – so wie es das Mikroskop für den physischen Körper getan hat. Dabei können sich die Fähigkeiten Mensch und Maschine zur Mustererkennung in den Daten ergänzen, um neue Hypothesen und Forschungsfragen zu generieren.

Zusammen mit meinen Kolleg:innen, insbesondere unseren Digitalen Künstlern Sebastian Pirch und Martin Chiettini, sowie unserem Data Scientist Felix Müller, arbeite ich an unserer Plattform VRNetzer. Die VR Software ist online frei verfügbar – und wurde 2021 in Nature Communications veröffentlicht – und wir entwickeln sie auch permanent weiter. Wir hoffen, dass wir die VR Plattform zu einem weit verbreiteten Standard für Datenexploration machen können, der Forscher:innen auf der ganzen Welt bei ihrer Arbeit hilft.

a. Christiane Hütter, Forscherin am Ludwig Boltzmann Institut für Netzwerkmedizin.
b. Das menschliche Protein-Protein-Interaktion Netzwerk, in dem mit Krebs assoziierte Proteine rot gefärbt sind. Ausgestellt im Ars Electronica Center. © Christiane Hütter/Menche Lab

Fachbegriffe

Aminosäure: Aminosäuren sind einfache Moleküle, die als Bausteine für Proteine dienen.

DNA: Die Desoxyribonukleinsäure (engl. DNA) ist ein langes Molekül aus zwei Spiralen, die mittels einer Abfolge aus vier verschiedenen kleineren Molekülen verbunden sind, und das in jeder Zelle unseres Körpers vorhanden ist. Die Abfolge der kleineren Moleküle enthält die Information über das Erbgut.

Enzym: Enzyme sind meist komplexe Proteine und ermöglichen durch ihren Aufbau und ihre Faltung gezielt bestimmte chemische Reaktionen im Körper.

Gen: Ein Gen ist ein Abschnitt auf der DNA, der kodierte Information enthält. Mittels RNA in der Genexpression dient diese Information zur Produktion bestimmter Proteine oder anderer Stoffe.

Genexpression: Die Genexpression beschreibt den Prozess, wie die Information eines Gens mittels RNA in die Produktion von Proteinen und anderen Stoffen übersetzt wird.

Genregulation: Genregulation bezeichnet die Steuerung von Genexpression und kann durch andere Gene oder Moleküle und auch Umwelteinflüsse beeinflusst werden.

Metabolismus: Der Metabolismus ist der Stoffwechsel in einem Körper und umfasst alle chemischen Prozesse darin.

Mutation: Eine Mutation eines Gens ist die Änderung der genetischen Information des Gens.

Protein: Ein Protein ist ein Molekül, das aus Aminosäuren aufgebaut ist. Durch ihren Aufbau und ihre Faltung können sie eine Vielzahl verschiedener Aufgaben im Körper erfüllen. Beispielsweise bauen sie Zellenwände auf, erlauben Zellbewegung, Transportieren andere Stoffe oder ermöglichen als Enzyme chemische Reaktionen.

RNA: Die Ribonukleinsäure (engl. RNA) ist ein Molekül, das ähnlich wie die DNA Erbinformation mittels kleinerer Moleküle kodiert, aber nur aus einem Strang besteht. Die RNA dient meist dazu, die Information in der DNA zu lesen und in die Produktion von Proteinen zu übersetzen.

Impressum

Ludwig Boltzmann Gesellschaft – Österreichische Vereinigung zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung

Texte und Interviews
Thomas Zauner, Science Writer

Wien, 2024